Höflich unterdrückt
Die Präsenz des chinesischen Militärs schüchtert die einheimische Bevölkerung in Tibet ein - und lähmt das öffentliche Leben. VON GEORG BLUME
Würde sich lieber von den Lamas als von China beherrschen lassen: Tibetanischer Demonstrant. Foto: dpa
Es ist fast genau ein Jahr her, dass sie sich zum letzten Mal trafen: Duojie*, der tibetische Tänzer, und Ciren, der tibetische Student. Damals hat sie der Aufstand der tibetischen Mönche zusammengebracht, heute eint sie die Angst vor der chinesischen Staatsgewalt. "Wir sind extrem nervös. Ich kenne sonst keinen Tibeter, der es im Augenblick wagt, mit einem Ausländer zu reden", sagt Ciren.
Sie treffen sich im Tibetancool International Club von Lanzhou, der Hauptstadt der westchinesischen Provinz Gansu. Ein Aufzug bringt sie in den siebten Stock. Vor ihnen öffnet sich ein langer Gang, der mit goldenen Gebetsmühlen aus Plastik dekoriert ist. Sie wählen ein Séparée mit Karaoke-Ausstattung und legen eine tibetische Video-CD auf. Auf einem Großbildschirm spielt eine Band aus dem autonomen tibetischen Bezirk Gannan in Süd-Gansu. Sie singt vom blauen Himmel über dem tibetischen Hochland und der Hoffnung auf eine reine Seele. Doch Ciren und Duojie hören nicht hin. Sie sagen, dass sie die Musik laut stellen, damit das chinesische Dienstpersonal draußen im Gang nicht verstehen könne, was sie reden. Ciren und Duojie sind sich unsicher, was am heutigen Tag geschehen wird. In Gannan sei die Lage so gespannt, dass er nicht mehr wage, dort anzurufen, berichtet Duojie. Ciren hat vor wenigen Tagen das tibetische Neujahr bei seinen Eltern in einem tibetischen Kreis der Provinz Sichuan gefeiert. Er erzählt, dass seine Familie und die Nachbarn nicht wagten, an den üblichen buddhistischen Zeremonien während der Feiertage teilzunehmen. Nicht aus Protest, wie es die tibetische Exilbewegung gerne sehen will, weil die Zeremonien offiziell abgesegnet waren. Sondern ganz einfach, weil man den Verhältnissen nicht traut. Überall in den tibetischen Siedlungsgebieten sei die Präsenz der chinesischen Sicherheitskräfte unübersehbar und wirke auf die tibetische Bevölkerung einschüchternd, stimmen Ciren und Duojie überein. "Sie fragen nach Pässen, sie patrouillieren mit ihren Militärfahrzeugen in den Hauptstraßen, sie machen Manöverübungen. Sie sind höflich. Man kann nicht sagen, dass sie die Leute konkret belästigen. Aber alle denken, dass sie da sind, um uns zu unterdrücken", sagt Ciren.
Noch vor einem Jahr hätten sich die beiden nicht vorstellen können, dass die Lage so eskaliert. Damals waren am 10. März die Mönche der großen Klöster in Lhasa, der Hauptstadt der Autonomen Region Tibet, auf die Straße gegangen. Ihr Protest war mit der Exilbewegung abgestimmt, es sollte die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit im chinesischen Olympia-Jahr genutzt werden. Ciren und Duojie sympathisierten. Als die chinesische Sicherheitskräfte die Mönche zurück in ihre Klöster drängten und von der Öffentlichkeit abriegelten, organisierten die tibetischen Studenten an der Minderheitenuniversität von Lanzhou eine öffentliche Mahnwache. Ciren war mit dabei.
Dann kam der 14. März, der Aufstand von Lhasa. Wer ihn entfachte, darüber wird bis heute gestritten. Augenzeugen berichteten damals der taz, dass radikale tibetische Studenten den gewalttätigen Protest im alten Tempelbezirk von Lhasa anzettelten. Von der Exilbewegung aber wird bis heute behauptet, dass es chinesische Agenten waren, die sich als Mönche verkleidet hatten, wodurch das Verhängnis seinen Lauf nahm. Denn der Protest eskalierte an diesem Tag zur antichinesischen Gewaltorgie, bei dem 19 Chinesen starben und der Großteil der chinesischen Geschäfte in Lhasa verwüstet wurde. Bis heute dient nun der 14. März Peking zur Rechtfertigung sämtlicher Repressionsmaßnahmen in den tibetischen Gebieten.
Anfänglich behauptete die Exilbewegung, dass am 14. März auch viele Tibeter ums Leben gekommen waren. Das bestätigte sich nicht. Doch geht die Bewegung inzwischen davon aus, dass im Zuge der chinesischen Gegenmaßnahmen in den letzten zwölf Monaten 220 Tibeter getötet, 1.300 verletzt und 7.000 zeitweise verhaftet wurden. Überprüfbar sind diese Angaben genauso wenig wie vor einem Jahr, als sie falsch waren. China bestreitet sie rundherum. Offiziell wurde lediglich bestätigt, dass nach dem Aufstand im letzten Jahr in Lhasa 953 Tibeter festgenommen, von ihnen 76 verurteilt und die übrigen wieder freigelassen wurden. Doch wie hoch auch immer die Opferzahlen sein mögen - es gibt keinen Zweifel an der seit einem Jahr völlig veränderten Lage in den tibetischen Gebieten. "Vor den Ereignissen im letzten März ließen uns die Chinesen in Ruhe. Sie investierten sogar in Tibet", erinnert sich Ciren. Er berichtet, wie wichtig in dieser Zeit der chinesische und ausländische Tourismus als Einkommen für viele Tibeter geworden wäre. Alles was die Chinesen heute in Tibet machten, diene nur noch ihren Sicherheitsinteressen.
Für die in Peking lebende, international bekannte tibetische Autorin Woeser hat sich damit der wahre Charakter der chinesisch-tibetische Beziehungen enthüllt: "Das Tibet-Ereignis hat den Schleier enthüllt. Früher sahen sich die Tibeter als Günstlinge der Chinesen, aber sie wurden nur wie Haustiere geliebt. Die Wahrheit ist, dass den Tibetern, wenn sie wie Menschen behandelt werden möchten, der Garaus gemacht wird", sagt Woeser. Die Gegenmeinung vertritt der KP-nahe tibetische Anthropologe Gelek: "Dass sich vor manchen Gedenktagen die Beziehungen zwischen Chinesen und Tibetern verschlechtern, ist nur Ausdruck eines politischen Kampfes zwischen dem Dalai Lama und der Pekinger Zentralregierung. Aber im tibetischen Alltag spürt man das nicht. Den meisten Tibetern ist ideologisches Denken fremd. Sie begrüßen die vielen materiellen Verbesserungen der letzten Jahre," sagt Gelek. Für die jungen Tibeter Ciren und Duojie ist es nicht einfach, sich in diesem Streit auf eine Seite zu schlagen. "Der Aufstand im letzten Jahr hat unsere Herzen beruhigt, aber er hat uns im Leben nicht weitergeholfen", sagt Duojie.
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